18 January 2012
Armut ist politisch
Armut ist politisch
Carmen Ludwig und Jochen Nagel
Kapstadt, wo der 6. Weltkongress der Bildungsinternationale stattfand, ist eine Stadt voller Kontraste und sozialer Polarisierung: Jenseits der glitzernden Welt der Konsumzentren wie der Waterfront oder den noblen Stadteilen am Atlantik nehmen seit Jahren die Proteste der Armen und soziale Konflikte um die Versorgung mit Gemeingütern wie Wasser, Elektrizität und Wohnraum sowie der Widerstand gegen staatliche Zwangsräumungen zu, die an die Zeit der Apartheid erinnern.
Um mehr über diese Kämpfe und das Leben in Südafrika jenseits des Kapstädter Postkartenidylls und der offiziellen Darstellungen zu erfahren, haben wir uns am Rande der Bildungsinternationale mit Aktivisten verschiedener politischer Gruppen im Township Khayelitsha getroffen. Khayelitsha, entstanden als Teil der Apartheid-Architektur, zählt mit mehr als 1 Million Bewohnern zu den größten Townships in Südafrika und liegt ca. 35 Kilometer von Kapstadt entfernt.
Das Container-Büro unseres Gastgebers Abahlali base-Mjondolo, was übersetz „Wir, die Hüttenbewohner“ bedeutet, liegt in einer informellen Siedlung aus Wellblechhütten. Neben deren Sprecher Mzonke Poni (Foto: links) waren Vertreter der Western Cape Anti-Eviction Campaign, der Mitchell’s Plain Backyarders Association und der Mandela Park Backyarders hinzugekommen. Diese Graswurzel-Bewegungen basieren auf dem Prinzip der Selbstorganisation und teilen die Auffassung, dass die Armen selbst Träger und Intellektuelle ihrer Kämpfe sind. Sie unterstützen die Township-Bewohner dabei, ihren täglichen (Überlebens-)Kampf selbst in die Hand zu nehmen: Dazu gehört, Menschen in den Townships wieder „illegal“ an gekappte Strom- und Wasseranschlüsse anzuschließen oder soziale Einrichtungen wie Kindergärten in den Townships zu organisieren. Darüber hinaus fordern die autonomen Bewegungen als politische Stimme der Armen ein, dass diesen Respekt entgegengebracht und die in der Verfassung garantierten Rechte auch für die in der Gesellschaft Marginalisierten eingelöst werden.
In den Townships liegt die Arbeitslosigkeit bei 60 bis 70 Prozent. Viele Kinder gehen morgens hungrig zur Schule. Allein in Kapstadt fehlen geschätzt 400.000 Häuser, eine halbe Million Menschen sind ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen. Korruption und Selbstbereicherung der politischen und ökonomischen Elite Südafrikas verhindern vielfach, dass Häuser und Infrastruktur bei den Armen ankommen. Die Privatisierung von Elektrizität und Wasser führt zu steigenden Preisen, die sich vor allem die Menschen in den Townships nicht leisten können.
Von Seiten der politisch Verantwortlichen werden die autonomen Organisationen als „Radikale“ abgestempelt, um sich nicht weiter mit den Anliegen der Armen auseinandersetzen zu müssen, wie Mzonke Poni erzählt – eine Strategie im Umgang mit unbequemen Positionen und Protesten, die uns auch in Deutschland nicht unbekannt ist. Gegenwärtig nehmen in Südafrika Landbesetzungen zu, die vor allem aus Verzweiflung und der Unzufriedenheit mit dem staatlichen, intransparenten System der Bereitstellung und Verteilung von Häusern entstehen. Auf die Landbesetzungen reagiert die von der Democratic Alliance geführte Stadtregierung in Kapstadt mit polizeilicher Repression und gewaltsamen Vertreibungen der Obdachlosen und Hüttenbewohner.
Abahlali baseMjondolo Western Cape unterstützt die Landbesetzungen:
„Menschen, die Land besetzen, zu verurteilen, bedeutet, die Armen zu verurteilen. Die Stadt hat zugegeben, dass sie die Menschen nicht unterbringen kann, dann haben sie kein Recht, die Menschen zu vertreiben und zu verhindern, dass sie sich selbst Wohnraum schaffen.“ Vielmehr müssen die Vermarktlichung des Landes und der exzessive Reichtum in Frage gestellt werden sowie die politischen Prioritäten, die überwiegend an den Interessen der Wohlhabenden und der Wirtschaft orientiert bleiben.
Wie Mzonke Poni deutlich macht, ist Armut eine politische Angelegenheit: „Armut darf nicht entpolitisiert werden, andernfalls besteht die Gefahr, dass Privilegien als natürlich und normal erscheinen. Armut ist politisch und muss politisiert werden.“
Der wichtige Kampf der autonomen Bewegungen für ein besseres Leben für alle in Südafrika, ihre Offenheit und ihre Gastfreundschaft haben uns sehr beeindruckt. 17 Jahre nach dem Ende der Apartheid ist Südafrika das Land mit der größten sozialen Ungleichheit auf der Welt. Die autonomen Bewegungen fordern mit ihrem Protest ein, dass das für die Mehrheit der Menschen noch unvollendete Versprechen der
Freiheit in Südafrika tatsächlich Realität wird.